Donnerstag, 15. Oktober 2020

100.000.000 Meter


Es begab sich, im Jahre des Herren 2001, genau gesagt am 13. November jenes Jahres, dass ich am frühen Nachmittag, mit meinem Vater, der just Renter geworden war, den kleinen Fahrradladen, in meinem damaligen Wohnort, Balkhausen, welcher ein Stadtteil von Kerpen ist und im Rheinland liegt, betraten, um uns nach einem fahrbaren Untersatz umzusehen, mit dem wir künftig ein wenig die Zeit vertreiben wollten und um den einen oder anderen nötigen oder unnötigen Weg damit zu bestreiten. Mit anderen Worten: der unscheinbare Beginn einer grandiosen Geschichte. 




Wir kauften dann gleich zwei Räder, im Doppelpack waren sie billiger. Solide Mittelklasse war das. Meines tut immer noch, in Hamburg bei einem Nachbarn, seinen Dienst, das Rad meines Vaters wurde in Grund und Boden gefahren. Fast 20 Jahre später nun, am 10. Oktober 2020, habe ich etwas geschaft, was ich damals noch in das Reich von Märchen und Sagen verbannt hätte: 100.000 km auf zwei Rädern mit Muskelkraft. Zweieinhalb Mal um die Erde und ich bin ein ganz bisschen stolz darauf. Ruhm und Ehre gebührt jedoch meinem Vater, bis zu seinem plötzlichen Tot vor 2 Jahren hätter er mutmaßlich mit dem Fahrrad den Mond erreicht. Ein Vorbild mag ich mir daran dennoch nicht nehmen - zu gerne gehe ich auch zu fuß (was mein Vater hasste) oder mache einfach auch mal nichts (was mein Vater nicht konnte).



Man kann ein wenig mit den Zahle Spielen: 3.267 Mal habe ich mich auf das Rad geschwungen, knapp 5.700 Stunden im Sattel gesessen und dabei im Schnitt jeweils gut 30 km zurück gelegt. Ich war am Nordkap und vor Neapel, ich habe Estland umrundet und schwedische Seen, ich bin auf Bahntrassen durch die Picos de Europa pedaliert, am Baikalsee ist mir die Kette gerissen und ich mussten einen halben Tag bergauf schieben, die Transalpina bin ich, so weit es ging, mit dem Klapprad hochgefahren, Litauen, Frankreich, Finland, l und Dänemark sowieso.... Ein knappes Dutzend Unfälle gab es zu beklagen (keinen einzigen verschuldeten), die kürzeste Tour ging bis zum Plattfuß in der Hofeinfahrt, die längste nonstop 330 km nach Berlin. 12 Fahrräder habe ich gehabt, vier davon sind immer noch in meinem Besitz. Einmal habe ich fast 16 Stunden im Sattel gesessen, im Juni 2017 bin ich mehr als 2.000 km gefahren, 2015 fast 12.000 km in einem Jahr. Mein Schutzengel schafft im Übrigen gut 73 km/h. 


Jenseits der Zahlen, ja, das Erbsenzählen ist auch eines meiner Hobbys, tut sich eine bunte Palette von Erlebnissen, Erkenntnissen und Eindrücken auf, die ohne dieses Ding mit zwei Räderen einfach nicht geschehen wären. Zum Einen gibt es da viele gemeinsame Erlebnisse, sowohl mit Menschen, die mir viel bedeuten, als auch zufällige Bekanntschaften unterwegs. Zu erwähnen sind z.B. die Touren mit dem ADFC Hamburg, kleinere und größere Ausfahrten bei denen man stets nette Menschen kennenlernen kann und sich (ausnahmsweise) nie Gedanken machen muss, wo es längs geht. Der Liegeradstammtisch Hamburg ist mir seit Jahren Quelle für Freundschaft, Wissen und interessante Unternehmungen. Familie, Freunde, Nachbarn Kollegen, jemanden der Mitradelt ist schnell gefunden. Tagestouren, Wochenendtouren, Urlaubsreisen, Fahrradevents - das Angebot war oft größer als meine Nachfrage. Und dann war da noch der fremde Mann, in einem Café am Timmendorfer Strand, der mich und mein Fahrrad sehr lange betrachtete und mich dann ohne Vorwarnung fragte, ob ich glücklich sei. Irgendwie hat er es wohl geahnt.



Meine treuesten Begleiter hatten jedoch jeweils vier Beine und begleiteten mich viele Tausend Kilometer. Joschi der Pinscher war ein fantastischer Co-Pilot und brachte es, trotz seiner zierlichen Figur auf knapp 40 Stundenkilometer beim Nebenherlaufen. Lotte die Bolonkadame lässt es locker angehen. Sehr schnell hat sie sich an ihren Platz im Körbchen gewöhnt. Den verläßt sie auch bevorzugt nicht. Kurze Beine und ein schwach ausgebildeter (Nasen-)kühler machen sie als Laufhund denkbar ungeeignet, dafür ist sie meinst tiefenentspannt auf Tour und unterhaltsam in den Pausen.




Wenn du deinen eigenen Weg gehen möchtest, darfst du niemanden nach dem Weg fragen. Allein unterwegs sein hat einen besonderen Reiz. Vor dem Aufbruch stets von Zweifeln geplagt, die jedoch nach wenigen Metern auf dem Asphalt verfliegen -  ich habe es noch nie nicht geschafft. Der ganz eigene Rhytmus, frei von allen Vorgaben, Gedanken fließen lassen, an Grenzen gehen, im Regen naß werden, gegen den Wind stemmen, die Sonne auf der Haut spüren, mit dem Fahrrad eins werden, vor Freude schreien wollen, Weihnachtslieder singen, wenn es niemand hört, flow, wenn der Tag zu Ende ist, sich fragen: Bin ich da wirklich überall gewesen? Habe ich das alles gesehen und erlebt? Auch das alleine Radeln empfinde ich als ein großes Geschenk.


100.000.000 Meter und kein einziger tut mir leid. Jeder war einzigartig, keiner kommt je wieder aber hoffenlich kommen noch viele dazu. Sicher tut es manchmal weh, man könnte alternativ am Fenster sitzen und hinaus schauen, aber ich haber noch nie von jemandem gehört, der auf dem Sterbebett glücklich damit war, am Fenster gesessen und hinaus geschaut zu haben - deswegen fahre ich jetzt einfach weiter.











 

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