Freitag, 10. November 2017

Orkane und andere kleine Unannehmlichkeiten



Was im Frühling gut war, dürfte im Herbst nicht schlecht werden, so dachten wir und verabredeten uns locker im Juli, für die Herbstferien, zu einer weiteren, hoffentlich aufregenden, Radtour. Das die nordrheinwestfählischen Herbstferien bis in den November andauern würden, war mir da noch gar nicht bewusst, war ja auch noch wirklich lange hin. Am Ende ist wirklich lange dann doch immer ziemlich kurz. Der diesjährige zusätzliche Feiertag am 31. Oktober, in Verbindung mit dem daraus entstehenden, nicht enden wollenden Wochenende, ließ mich in zwei Wochen vorher panikartig noch schnell drei Hotels buchen, obwohl sich mir der Eindruck aufdrängte, bei booking.com sei immer alles fast ausverkauft und man nehme gerade seine aller aller letzte Chance wahr. Tatsächlich war schon das Hafenhostel in Bremerhaven ausgebucht - wie schade. Eine Bleibe in Balje am westlichsten Zipfel des Landkreises Stade und das Fährhaus am Nord-Ostsee-Kanal in Burg in Ditmarschen sollten noch folgen. Ich klopfte mir selbst auf die Schulter und war sehr zufrieden, auch wenn die Preise leicht über meinem Limit lagen.


Zwei Wochen waren ausreichend Zeit, einen dieser lebensbedrohlichen herbstlichen Männerschnupfen zu überleben. Puh! Das war knapp. Nach erfolgter, unerwarteter Genese hatte ich nur noch wenig Zeit, einen fahrbaren Track für die Reise zu erstellen, die Kette zu fetten, die Reifen aufzupumpen und sieben Schichten Allwetterklamotten in die Fahrradtasche zu stopfen. Man weiß ja nie was einen erwartet. Angekündigt war Sturm, der in der Vorhersage langsam zum Orkan wurde, aber irgendwie nur nachts und eigentlich ganz woanders. Kann solch eine Kleinigkeit jemanden Aufhalten, der gerade einen Männerschnupfen überlebt hat?


Ein starkes Zweierteam waren wir und schon die erste Herausforderung, die Richtigen Fahrkarten für den Metronom nach Bremen zu erstehen, meisterten wir glamourös. Wir folgten, vom Hauptbahnhof , der Weser Richtung Norden, gönnten uns am Stadtrand noch einen Kaffee und scheiterten dann an der zweiten Herausforderung. Ein offensichtlich größeres landwirtschaftliches Gerät hatte auf einem Feldweg tonnenweise Kleie verteilt. Erst subtil wenig, dann kamen die ganz dicken Brocken. Ging es anfangs nur darum, sich auf dem glitschigen Untergrund, nicht auf dem Hosenboden zu setzen, war später klar, hier dreht sich nichts mehr. Nicht mal mehr schieben war möglich - Schlamm, so weit das Auge reicht, und den wird man einfach nicht mehr los. Immer wieder setzten sich Bremsen, Schaltung und Schutzbleche zu. Wir bearbeiteten das Geklebe mit Stöckchen, Gras, Taschentüchern und Wasser aus Pfützen - überwiegend erfolglos und schon bald sahen wir selbst aus wie die Wildschweine nach einem Feiertag. Während wir immer einmal wieder anhielten um uns ein wenig vom Schlamm zu erlösen, frischte der Wind merklich auf und die letzten Kilometer bis Bremerhaven wurden sehr anstrengend. 


Eine Waschanlage musste her - so konnten wir uns in keinem Hotel blicken lassen. Beim zweiten Anlauf hatten wir Glück. Ein freundlicher junger Mann mit Hochdruckreiniger säuberte Mannen und Maschinen zu unserer vollsten Zufriedenheit und zum kleinen Preis. Unser Hotel lag ganz knapp hinter dem "Hallo-Schatzi-möchtest-du-Mal-mitkommen-Stadtteil" - gerade so Glück gehabt - jetzt erst Mal heiß duschen und ein wenig erholen. In der "Letzten Kneipe vor New York" gab´s Scholle Finkenwerder. Der Weg dorthin führte durch besagten Stadtteil und ich vertrieb mir sporadisch die Zeit damit zu erklären, ich sei gar nicht Schatzi und da müsse ein Irrtum vorliegen. Brechend voll war es in der Hafenkneipe. Wir fanden nur noch in einem weniger attraktiven Hinterzimmer Platz. Vorne spielten die drei lustigen Zwei zu Speis und Trank auf. Es war erstaunlich, wie die kleine Kapelle es fertig brachte, das Lokal bis 22:00 Uhr leer zu spielen. Am Ende waren nur noch wir beide dort, aber der Kellner versicherte: "Die spielen immer bis zum letzten Mann". Etwas resigniert zahlten wir die Rechnung und gaben ein gutes Schmerzensgeld. Draußen regnete es waagerecht und die Weser lugte über die Kaimauer. Aus gegebenem Anlass setzten wir auf Taxi. In der Nacht tobte "Herwart" ums Haus und durch die Straßen. Wenn wir lange genug schlafen würden, wäre das schlimmste Wetter überstanden. 


Kräftiger Wind aber blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Neun Uhr dreißig, Frühstück, Männergespräch: "Hast du Werkzeug dabei?" - "Nö!" - "Du?" - "Nö!" - "Ich dachte du hast!" - "Jo, dachte ich auch!" - "Wird schon nichts passieren, passiert ja sonst auch nix!" - "Jo!"

Nix dauerte etwa 200m. Das schwammige Gefühl am Hinterreifen war unmissverständlich. Keine Luftpumpe, kein Flickzeug. An drei Tankstellen auf dem Weg konnten wir etwas Luft nachpumpen, aber weder Werkzeug noch Flickzeug erstehen. Sonntag Morgen 11:00 Uhr in Bremerhaven und keine Idee, außer..... ADFC. Der Allgemeine deutsche Fahrradclub bietet seinen Mitgliedern einen 24/7 Pannenservice deutschlandweit an (gegen Aufpreis sogar europaweit). Ein bisschen peinlich war es mir schon, wegen eines platten Reifens den Pannendienst zu rufe - kein Problem, beteuerte ein freundlicher Berliner am andern Ende der Leitung, und er würde gleich zurück rufen. Einen Service-Point gebe es, wo ich alles nötige vorfinden werde und der Abschleppwagen komme auch gleich. Windgeschützt in einem Busshäuschen sitzend in die Sonne blinzelnd fiel die Wartezeit nicht lang. Ein ausgewachsener Abschleppwagen fuhr an, der Fahrer zurrte mein Rad auf die Ladefläsche und schon ging es los. Mir war immer noch peinlich zu Mute. Wir rollten bei der vorgesehenen Adresse im Hafen vor, Haus Nr. 5, ein Fischrestaurant. Der Angestellte am Hintereingang schaute mich etwas ungläubig an, wollte aber noch seinen Chef zu Rate ziehen. Auch dieser beteuerte glaubhaft, nicht im Besitz von Fahrradflickzeug zu sein, könne aber alternativ einen guten frischen Fisch anbieten. Ratlosigkeit. Der Abschlepper musste weiter, wollte mich aber nicht einfach aussetzen. Was niemand wusste und auch niemand einfach hätte herausfinden können, die 5 war ein Fehler im System, es hätte die 6 sein sollen, und die war nicht gleich nebenan, sondern auf der anderen Seite vom Kai. Werkzeugschrank, Ersatzschlauch, Luftpumpe, alles am Tresen der Touristeninfo gegenüber. Geht doch! Der freundliche Herr vom ADFC, der sich zwei Stunden später noch einmal nach meinem Wohlergehen erkundigte hatte auch keinen Plan, wie so etwas passieren konnte und erst recht nicht, wie man den Systemfehler beheben kann. 


Zu jener Zeit saßen wir in der Regionalbahn nach Cuxhaven, das gebot die nunmehr fortgeschrittene Tageszeit und der Reststurm. Bei der Fahrkartenkontrolle merkte der Kartineur in einem ausgedehnten (er stotterte) Nebensatz an, der Zug würde sicher nicht bis Cuxhaven durchkommen und irgendwas von Güterzug und Baum. Bei einem Zwischenhalt wurde dem Triebwagenführer eine warme Mahlzeit in die Bahn gebracht. Die Szene erinnerte mich ein wenig an "Mord mit Aussicht" und "Hengasch". Derart gestärkt erreichte unser Gefährt auf wundersame Weise doch noch Cuxhaven Hauptbahnhof. Erfreut über den Zeitgewinn beschlossen wir an der Klappbrücke am Hafen auf die Schnelle eine Crepe und eine ToGo Kaffee zu uns zu nehmen. Lecker aber mühsam, der Crepe flatterte und der Kaffee wurde aus den Bechern geblasen. 



Rückenwindgetrieben sausten wir durch das gerade erst von den Fluten freigegebene Deichvorland Richtung Osten. Die See tobte in der Elbmündung und neben dem zeitweiligen betrachtens des wilden Treibens war die Konzentration darauf gerichtet, nicht von der Spur ab zukommen und keine angespülten Äste zu überfahren. Welch aufregend langer Tag, es war schon stockdunkel als wir unser Hotel erreichten. 


Das Personal war hyperfreundlich, die Dusche heiß, das Essen gut, das Frühstück grandios und das Beste war, es gab keine Musik. Der Morgen war blau und klar, feinstes Fahrradwetter. Zunächst brach mir der Rückspiegel ab (was bei Liegerädern immer ziemlich doof ist), dann versagte die Schaltnabe. "Deichstraße für Radfaher und Fußgänger ab 15. Oktober gesperrt" verkündeten überdimensionierte Tafeln am Außendeich in Nordkehding. Und das gleich auf 20 km.  Eine Umleitungsempfehlung gab man nicht, so beschlossen wir kurzerhand die Schilder zu "übersehen". Dass pausenlos lärmende Landmaschinen und ein gutes Dutzend vorbeifahrender Autos der heimischen Vogelwelt weniger Schaden zufügen als zwei still vom Rückenwind getrieben dahingleitende Radfahrer erschien uns wenig plausibel. Vielleicht sollte man das Durchfahrverbot überdenken und ein wenig anpassen. 


Freiburg (nicht im Breisgau) - Kaffeepause, Konsolidierung. Meine prinzipiell mögliche Höchstgeschwindigkeit lag bei ca. 18 km/h, auf die Dauer kein haltbarer Zustand. Nach der Elbquerung wollten wir in Glückstadt eine Fahrradwerkstatt aufsuchen und das Problem beheben lassen. Werkstatt Nummer Eins hatte Weihnachtsferien, Werkstatt Nummer zwei hatte Montags immer geschlossen und Werkstatt Nummer drei, eigentlich eine Autowerkstatt, merkte freundlich an, solch eine Schaltung noch nie gesehen zu haben und nur theoretisch zu kennen. In Wilster, da gebe es eine große Fahrradwekstatt, da sollten wir doch Mal vorbei schauen, die können uns sicher helfen. 



Wilster lag auf unserem Weg, den wir bis dort hin, aufgrund aufgeweichter Deichwege noch ein wenig modifizieren mussten. Ein Flugzeugmechaniker (mir lag auf meiner bösen Zunge zu fragen, was er denn verbrochen habe, nun hier in dieser Fahrradwerkstatt geendet zu sein) nahm sich unser an. Zu selten, diese Schaltung, und Ersatzteile gebe es ohnehin nur noch auf dem Gebrauchtmarkt, da SRAM die Produktion dieser Getriebe im vergangenen Jahr eingestellt habe, war die Diagnose. Die Eine oder Andere provisorische Rettungsmaßnahmen wurde noch erwogen, in meiner Vorstellung passten die eher in die Luft und Raumfahrt. Ich erwog, irgendwann wieder zu Hause, mein Ebay zu Rate zu ziehen und das Problem in Ruhe zu lösen. Immerhin konnte man mir mit einem Spiegel dienlich sein, das war fein.


Schon neigte sich der lichte Tag dem Ende zu. Die Zeitumstellung am vergangenen hatte eine weitere Stunde gekostet. Kuchen wäre schön gewesen, musste aber zu Lasten einen Norddeutschen Highlights, der tiefsten Landstelle Deutschlands, ersatzlos gestrichen werden. Jaja, wir haben auch so eine Art Zugspitze, nur eben auf den Kopf gestellt. Man kann nicht gar so weit gucken, aber mit etwas Glück kann man im in nördlicher Richtung oben Schiffe vorbei fahren sehen. 


Das Fährhaus in Burg ist eine fast schon edle Herberge. Die Zimmer waren nett, erlaubten aber leider keinen Blick auf den Nord-Ostsee-Kanal. Diesen hatten wir jedoch beim Abendessen. Holsteinische Schwein, Brechböhnchen mit Speck und Kartoffeln in Stäbchenform schmeckten. Uns beiden lüstete offenbar nach dem Selben. Dazu bot man hausgebrautes Bier und währen wir so da saßen, mit dem Verdauungvorgang begonnen hatten und den Kanal im Auge hatten, durchzuckten Muskelkrämpfe heftige beide Beine. Magnesiummangel, wer es schon einmal erlebt hat, der weiß wovon ich rede und das das kein Spaß ist. Mühsam quälte ich mich zwischen Stuhl und Tischplatte heraus, mit der ernsthaften Absicht nichts umzustoßen und wenig Aufsehen zu erregen. Ein paar Schritte, jetzt bloß keine falsche Bewegung. Den Rest des angefangenen Getränkes nahmen wir stehend am Tresen ein. Zwei Magnesiumtabletten als Erste Hilfe Maßnahme sollten reichen. Um das Gebein geschmeidig zu halten spazierten wir noch ein Stück am Kanal vorbei, Schiffe gucken und das glitzernde Wasser im Mondlicht. Am Ende waren es noch verwegene 10 Kilometer, bis zur Fähre Hochdonn und auf der anderen Kanalseite zurück. Beeindruckend dieser Kanal und ausgesprochen schön der Abend. 


Am nächsten und letzten Tag war dann Schluss mit lustig. Graues, feuchtes, unattraktives Wetter, die Schaltung immer noch defekt und keine rechte, echte, ungetrübte Lust mehr. Die Optionen waren a) Rendsburg / 50 km oder b) Kiel / 100 km. Ich plädierte auf Rendsburg + Kaffee. Mein Vorschlag wurde einstimmig angenommen. An der Schiffsbegrüßungsanlage am Rendsburger Fährhaus (die Schwebefähre ist jetzt seit fast zwei Jahren, nach einer Kollision mit einem Frachter, außer Betrieb) sollte es Kaffee und Kuchen sein. Feiertagshochbetrieb, mit Not ergatterten wir einen Sitzplatz, das war dann auch schon das zu berichtende Positive an der Sache, der Rest bestand zum größten Teil aus warten. Ich schnippte die Kellnerin etwas unfreundlich an, chapeau! sie ließ sich die Butter nicht vom Brot nehmen und schnippte genau so unfreundlich zurück. 1:1 das gefiel mir und qualifizierte sie für ein Trinkgeld trotz der widrigen Umstände. Regionalexpress, 50 min bis Hamburg, so schnell geht das. Zu Hause warteten freudig Frauchen, Lotte, ein großer Topf Gulasch und eine heißes Vollbad. Da kann man wirklich nicht meckern und das Gespräch des Abends drehte sich um Fahrradfahren, Osterferien, Frühling und so was......man braucht schließlich im langen, dunklen, norddeutschen Winter etwas, worauf man sich freuen kann.